Montag, 10. August 2015

ALLEIN ODER IN DER GRUPPE?


Wir irrten uns aneinander. Es war eine schöne Zeit.
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Wiederholt wurde ich angefragt, warum wir nur Einzeltherapien machen und keine Gruppe führen würden, auch warum ich nie etwas über Gruppentherapie schreiben würde. Für nicht wenige ist Gruppentherapie einfach nur ein schrecklicher Stuhlkreis, in welchem man sich womöglich auch noch nur anschweigt und alle Wollstrümpfe und Birkenstöcke tragen. Dies ist natürlich ein längst nicht mehr zeitgemässes Bild und so möchte ich dem mannigfaltig geäusserten Wunsch doppelt entsprechen:
Darüber schreiben und eine Gruppe eröffnen, aber Schritt für Schritt:

Geschichte

1905 arbeitet Joseh H. Pratt auf einer Tuberkulose-Station mit Gruppen, in den 20er etabliert sich die Gruppentherapie dank Paul Schilder, Alfred Adler, August Aichhorn, um nur die wichtigsten zu nennen. Beschrieben wird der Begriff Gruppenpsychotherapie erstmals in den früheren 40er Jahren von Jacob Levy Moreno, dem Begründer des Psychodramas.

In den 60er bis 80ern wird die Gruppentherapie durch Raymond Battegay in Basel, Michael Balint in London, Raoul Schindler in Wien, Fritz Perls und Carl Rogers in New York und Horst Eberhard Richter in Giessen weiterentwickelt.

Therapeutische Ansätze

Vieles in der Gruppentherapie basiert letzendlich auf Harry Stack Sullivan und seiner zwischenmenschlichen (interpersonalen) Theorie in der Gesprächstherapie. Nach Sullivans Auffassung entsteht die Persönlichkeit fast ausschliesslich durch die Interaktion des Menschen mit anderen Menschen, insbesondere seinen „Bezugspersonen“: Der Mensch entwickelt ein Selbstkonzept, dass auf den wahrgenommenen Urteilen und Einschätzungen dieser Bezugspersonen basiert. Grunebaum und Solomon haben in ihren Untersuchungen über junge Menschen darauf hingewiesen, dass befriedigende Beziehungen und das Selbstwertgefühl untrennbar miteinander verbunden sind. Gleiches gilt für sowohl für Menschen in der zweiten Lebenshälfte als auch für alte Menschen.


Die Gruppe als Mikrokosmos

Wenn du die Einsameit nicht ertragen kannst, langweilst du vielleicht auch andere?
Oscar Wilde (1854-1900)

Eine frei interagierende Gruppe, die nicht durch rigide, meistens durch die Gruppenleitung implementierte Strukturen behindert wird, entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einem sozialen Mikrokosmos ihrer Mitglieder. Wenn man ihnen genügend Zeit lässt, fangen sie alle irgendwann an, sich selbst zu sein und interagieren mit den übrigen Gruppen-mitgliedern so wie mit Menschen in ihrer gewohnten Umgebung. Sie lassen in eben dieser Gruppe das interpersonale (zwischen-menschliche) Universum entstehen, in dem sie ständig leben. Mit einem gewichtigen und oft matchentscheidenden Unterschied: In der Gruppe erhalten sie ungeschminkten Feedback, was in ihrem „Alltagsuniversum“ oft nicht der Fall ist oder jeglicher Restobjektivität entbehrt. Oft ist die Gruppe für Menschen, die keine engeren Beziehungen (mehr?) haben oder finden, die erste Gelegenheit, intensives und präzises Feedback über ihre Art des Umgangs mit anderen zu erhalten. Vielen Menschen, die über ihre Umgebung klagen, über Enttäuschungen, aber auch über Einsamkeit, ermöglicht die Gruppe herauszufinden, was ihr eigener Beitrag zu Enttäuschung, immer gleich bleibenden Annäherungsmustern an beispielsweise potentielle PartnerInnen und eventuell auch Isolation und Einsamkeit ist.

Die Ausbildung von Fähigkeiten

Welche Fähigkeit besitzen wir alle gemeinsam? Die Fähigkeit zu verändern!
L. Andrews

Innerhalb der Gruppe entstehen bei den Teilnehmenden neben oben erwähntem oft zusätzliche Fähigkeiten: Sie lernen, auf andere so zu reagieren, dass sie ihnen helfen (können). Sie eignen sich Methoden der Konfliktlösung an. Sie urteilen seltener über andere. Sie sind besser in der Lage, auf angemessene Weise Empathie zu erleben und selbst zum Ausdruck zu bringen. Diese Fähigkeiten helfen den Betreffenden später im Umgang mit anderen Menschen und bilden die Grundlage der emotionalen Intelligenz.

Ein - oder Ausschluss?

Aus Untersuchungen nicht menschlicher Primaten, primitiver menschlicher Kulturen und der heutigen menschlichen Gesellschaft geht eindeutig hervor, dass Menschen immer in Gruppen zusammengelebt haben, innerhalb derer es intensive und dauerhafte Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern gab nd dass das Zugehörigkeitsbedürfnis stets eine starke, grundlegende und omnipräsente Motivation war.
Der grosse amerikanische Psychologe und Philosoph (!) William James hat vor einem guten Jahrhundert geäussert:
„Wir sind nicht nur Herdentiere, die gerne in Sichtweite ihrer Artgenossen bleiben, sondern wir haben auch eine angeborene Neigung, uns die Beachtung, und zwar die positive Beachtung, unseresgleichen zu sichern. Man könnte sich keine höllischere Strafe ausdenken, wäre so etwas physikalisch-theoretisch möglich, als jemanden in einer Gesellschaft leben zu lassen, deren Mitglieder den Betreffenden nicht im Geringsten bemerken.“
Dazu gehört auch durch andere Menschen herauszufinden, was nicht zu uns gehört. Herauszufinden, was wir nicht sind, ist ein Schritt auf dem weg zur Erkenntnis dessen, was wir sind.

Risikofaktor Beziehungsmangel

Die Überlegungen von William James wurden durch zeitgenössische Untersuchungen, in denen der Schmerz der Einsamkeit oder abgewiesener Beziehungen und deren negative Folgen nachgewiesen wurden, immer wieder als zutreffend bestätigt. Beispielsweise liegen uns stichhaltige Beweise dafür vor, dass alle verbreiteten Todesursachen signifikant häufiger bei Alleinstehenden vorkommen: bei ledigen, geschiedenen und verwitweten Menschen. Soziale Isolation ist ein ebenso gravierender Risikofaktor für frühe(re) Sterblichkeit wie altbekannte körperliche Risiken, beispielsweise Rauchen, Bluthochdruck, Übergewicht.

Methodik und Wirkung

Die Gruppe soll als Pendant (Abbild) der Gesellschaft, der Umgebung und der Herkunfts-familie des Teilnehmers dienen. Der Gruppe wird kein Thema vorgegeben, die Teilnehmenden sprechen über das, was sie gerade beschäftigt, teilen Einfälle, Erlebnisse, Assoziationen aber auch Phantasien frei mit. Therapeut (und evtl.) Co-Therapeut verhält (verhalten) sich wohlwollend, neutral und mit Gruppendauer zunehmend abstinent. Dadurch entsteht die erwähnte freie Gruppe, befreit von hierarchischen Strukturzwängen, in denen Teilnehmende Erfahrungen, Erlebnisse und damit verbundene Gefühle wieder erleben können, diesmal aber mit Feedback. Im Konflikt sollen verbotene Wünsche und verinnerlichte kulturelle, gesellschaftliche, zwischenmenschlich-partnerschaftliche, eventuell aber auch elterliche Tabus deutlich gemacht und dadurch das aktuelle Leben hemmender Widerstand abgebaut werden. Dadurch werden neue Stimmungen und Energie freigesetzt.
Die wichtigsten Wirkfaktoren der Gruppe sind:

·      Katharsis (Ausdrücken von Gefühlen, Emotionen, Aggressionen)
·      Zwischenmenschliches Lernen
·      Die Gruppe als Mikrokosmos
·      Feedback

Gruppengrösse

Als ideal wird eine Gruppe von sieben bis acht Teilnehmenden (exkl. Leitung) angesehen. Das Minimum beträgt drei bis vier.

Setting

Jedes Treffen (wöchentlich) dauert 90 Minuten. Es gibt kein vorgefasstes Programm, der Verlauf der Gespräche wird durch die Gruppenmitglieder initiiert. Die freie Assoziation ist ein ebenso wesentliches Element wie das Feedback der Teilnehmer an die Teilnehmer. Die Leitung kann eine weitgehend passiv-abstinente Haltung einnehmen, aber auch aktiv in das Geschehen eingreifen. Ihre wichtigste Aufgabe ist die Moderation der (teilweise unbewussten) Kommunikation der Gruppenmitglieder untereinander sowie einzelne Widerstände aufzulösen und Veränderungen zu beobachten, diese anzusprechen und zu deuten.

Erscheinen, Dauer, Geschlecht

Es besteht Erscheinungspflicht. Unregelmässige Partizipation stört nicht nur den eigenen, sondern den Prozess der ganzen Gruppe, insbesondere kurzfristige Abwesenheitsankündigungen oder unentschuldigtes Nicht-erscheinen. Die Dauer der Gruppe wird i.d.R. als ersten Schritt auf ein halbes Jahr angelegt, kann sich und tut sich oft aber auch in gegenseitiger Absprache verlängern.

© Dr. med. Marco Caimi

Beginn offene Gesprächsgruppe (Frauen herzlich willkommen!) „ReInvention“:

Dienstag, 13. Oktober 2015 ; 18.30-20.00
Ort: Männerpraxis, Steinenvorstadt 11, 4051 Basel
Leitung: Dr. med. Marco Caimi, Männerarzt und Paartherapeut
Co-Leitung: Lisa Gerspacher, Studentin der Psychologie

Anmeldung und/oder Fragen: 061 225 92 55
oder: edoc@maennerpraxis.ch