Searching for Sugarman: Eine unglaubliche, aber wahre Geschichte, von Detroit, USA, bis
Kapstadt, Südafrika
Lotto-Millionäre erfahren schnell von ihrem
„Glück“ und werden meist unglücklich. Andere spät, oft sogar viele Jahre danach
und bleiben glücklich. So auch Sixto Diaz Rodriguez, 1942 in Detroit als Sohn
mexi-kanischer Einwohner geboren. Nach Abschluss der High School verdingt er
sich als Bauarbeiter, um seinem Hobby, dem Musizieren, nachgehen zu können. Der
SingerSongwriter nimmt 1967 seine erste Single I’ll will slip away auf. Mit Clarence Avant, der gerade sein Label
Sussex Recors gegründet hat, produziert er 1970 ein Album mit selbst
geschriebenem Material: Cold Fact.
Die Fachwelt ist begeistert, bezeichnet ihn als Dylan, der singen kann und
dessen Texte diejenigen Dylans weit in den Schatten stellen würden. Trotz der
fachkritischen Begeisterung floppt das Album. 1971 produziert er trotzdem ein
zweites Album mit dem sinnigen Namen „Coming from Reality“. Auch diesem ist
wenig Erfolg beschieden, nur wenige hundert werden verkauft, Rodriguez kehrt
dem Musikgeschäft den Rücken, geht zurück auf den Bau, arbeitet dort hart
(meist bei Abbrucharbeiten). 1981 absolviert er ein Bachelor-Studium in
Philosophie und kandidiert bis 1989 mehrfach ohne Erfolg für politische Ämter
in Detroit. Er lebt ein ruhiges, unauffälliges Leben mit seiner Familie in
seinem bescheidenen Haus.
Unerwartetes
Mitte der 70er wird Rodriguez in Südafrika, dem damaligen Rhodesien und Botswanna zum Star. Bis heute ist unklar, wie in einer Zeit ohne Internet und iTunes seine Platten nach Südafrika gelangten. Seine Songs, insbesondere I wonder werden zum Sound der liberal-weissen anti-Apartheid-Bewe-gung, sehr zum Missfallen des Regimes. I wonder mit der Passage
I wonder how many times you had sex
I wonder do you know
who’ll be next
muss von den Radiostationen auf den
Vinylscheiben zerkratzt werden....Rodriguez verkauft in Südafrika mehr als eine
halbe Million Alben, mehr als Elvis Presley (!) – und weiss nichts davon.
Clarence Avant, ein Farbiger, behält die Tantiemen für sich zurück und findet
dies auch richtig...
Selbst in Südafrika gibt es über Rodriguez
wenig Fakten. Ein Gerücht wird aufgebaut, er hätte sich nach einem misslungenen
Comback-Konzert auf einer Bühne erschossen. Stephen Segermann, ein
Plattenladenbesitzer in Kapstadt, glaubt dem Gerücht nicht. Als er das Booklet
für die Neuauflage von Coming from
Realitiy texten darf, ruft er darin zur Suche nach ihm auf und richtet eine
Website ein. Zwei Jahre später wird Rodriguez inmitten seines bescheidenen
Lebens gefunden, wohlauf und schuftend. Es folgt ein Auftritt in Kapstadt, er
darf seine Familie inkl. seiner erwachsenen Töchter mitnehmen, am Flughafen
erwarten sie nicht rote, sondern weisse Teppiche, das Konzert ist restlos
ausverkauft, minutenlang ist zu Beginn nur den Bass des Intros von I wonder zu hören, die Menge tobt.
Oscar-Gewinner
Der schwedische Dokumentarfilmer Malik
Bendjelloul, der Rodriguez 2006 zum ersten Mal trifft, zeichnet das Leben von
Rodriguez und die Suche nach ihm in seinem Dokumentarfilm Searching for Sugarman (nach dessen mittlerweile berühmt gewordenen
Song) auf. Der Film gewinnt bei der Oscar-Verleihung 2013 den Oscar als bester
Dokumentarfilm. Der gleichnamige Soundtrack erreicht Platz 76 der US-Charts,
die Wiederveröffentlichung „Cold Fact“ Platz 86 der US-Billboard-200.
Rodriguez lebt weiter sein bescheidenes Leben,
gibt aber wieder vermehrt Konzerte. Am 9. Mai 2013 verleiht ihm die Wayne State
University in Detroit den Ehrendoktortitel Doctor of Human Letters.
Seiner Zeit voraus
Rodriguez war seiner Zeit wahrscheinlich
voraus. Seine Songs, vorge-tragen von einer Stimme, die einem Gänsehaut macht,
die Schuhe auszieht, die Tränen in die Augen treibt und dort hemmungslos
fliessen lässt, sie gehen mehr als unter die Haut, sie schütteln einem, ob über
Dealer in der kaputten Stadt Detroit, die etwas Trost zu verkaufen versuchen
Sugar man, won’t you hurry
‚Cos I’m tired of
these scenes
for a blue coin won’t
you bring back
all those colours to
my dreams
Silver magic ships you
carry
Jumpers, coke, sweet
Mary Jane
über die Einsamkeit
I wonder about the love you can’t find
And I wonder about the loneliness that’s mine
I wonder how much
going you got
I wonder about your
friends that are not
über nicht gelebte Liebessehnsüchte
The sweetest kiss is
the one
I have never tasted
über das Verlassenwordensein
Cause the smell of her perfume echoes in my head still
über Verlassensängste
Cause your queen of hearts who is half a stone
and likes to laugh alone
is always threatening you with leaving
oder Erinnerungen an einen geliebten Menschen
Just a song we shared all here
brings memories back
when you were here
I think of you.
Wenn man(n) im preisgekrönten Film erfährt,
dass ihm zwei Wochen vor Weihnachten wegen des Flopps der Plattenvertrag
gekündet wird und dann der Song „Cause“ folgt:
Cause I lost my job two weeks before Christmas
And I talked to Jesus at the sewer
And the Pope said it
was none of his God-damned Business
dann brechen alle Dämme. Ein Journalist
formulierte es so: „Seine tiefgründigen Songs sind wahre Kleinode in einer
Zeitkapsel“. Rodriguez brauchte die Worte und Töne nicht für Lieder, sondern um
unsere ureigenen Spiegel, Gefühle, Ängste, Sehnsüchte, Wut und auch Freude zu
beschreiben, Liebeserklärungen pur an unsere Seele. Am 26.3.2014 schreibt die
NZZ: „Seine Platten klingen umso magischer, als Rodriguez’ Stimme einen sofort
anspringt durch ihre elektrisierende Strahlkraft.“
Rodriguez wirkt trotz vieler Jahre verpassten
Ruhms glücklich, auch wenn in seinen Songs manchmal Wut zu spüren ist:
And I explained that I
have overpaid them
Oder:
Garbage ain’t collected, women ain’t protected
Politicians using people they are abusing
The mafia is getting
bigger, like pollution in the river
And you tell me that
this is where it is.
Woke up this morning with an ache in my head
I splashed on my clothes as i spilled ou of bed
I opened the window to
listen the news
But all I heard was
the Establishement’s Blues
Working class hero
Am 13. Mai 2015 spielte Rodriguez im
ausverkauften Kongresshaus in Zürich. Die Bauarbeit hat seine Spuren
hinterlassen, er muss auf die Bühne geführt werden. Sein muskulöser Oberkörper
ein stummer Zeit-zeuge eines harten, arbeitsamen und bescheidenen Lebens, seine Stimme eine akustische Droge mit
Suchtpotential. Wenn je der Begriff working class hero zutraf, dann auf ihn. Wie
viele Konzerte wird er noch spielen können? I wonder.
Als ob er meine unausgesprochene Frage aus
Reihe 21 gehört hätte:
Cause I see my people trying to drown the sun
in weekends of Whiskey
sours
Cause how many times
you wake up in this
comic book of life
and plant flowers?
Mit einem „ It was an honour to be
here with you“ verabschiedet er sich.
No, the honour was our’s. Thank you for a
incredible and tremendous evening!
Definitiv und entgegen allen
Unkenrufem: Männer können Männer zum weinen bringen. Wenige Augen bleiben
trocken.
©marco.caimi@aequilibris.ch
PS: Rodriguez spielt heute 15. Mai in Milano
und am 23.5. in Firenze.