Freitag, 15. Mai 2015

KÖNNEN MÄNNER MÄNNER ZUM WEINEN BRINGEN?




Searching for Sugarman: Eine unglaubliche, aber wahre Geschichte, von Detroit, USA, bis Kapstadt, Südafrika


Lotto-Millionäre erfahren schnell von ihrem „Glück“ und werden meist unglücklich. Andere spät, oft sogar viele Jahre danach und bleiben glücklich. So auch Sixto Diaz Rodriguez, 1942 in Detroit als Sohn mexi-kanischer Einwohner geboren. Nach Abschluss der High School verdingt er sich als Bauarbeiter, um seinem Hobby, dem Musizieren, nachgehen zu können. Der SingerSongwriter nimmt 1967 seine erste Single I’ll will slip away auf. Mit Clarence Avant, der gerade sein Label Sussex Recors gegründet hat, produziert er 1970 ein Album mit selbst geschriebenem Material: Cold Fact. Die Fachwelt ist begeistert, bezeichnet ihn als Dylan, der singen kann und dessen Texte diejenigen Dylans weit in den Schatten stellen würden. Trotz der fachkritischen Begeisterung floppt das Album. 1971 produziert er trotzdem ein zweites Album mit dem sinnigen Namen „Coming from Reality“. Auch diesem ist wenig Erfolg beschieden, nur wenige hundert werden verkauft, Rodriguez kehrt dem Musikgeschäft den Rücken, geht zurück auf den Bau, arbeitet dort hart (meist bei Abbrucharbeiten). 1981 absolviert er ein Bachelor-Studium in Philosophie und kandidiert bis 1989 mehrfach ohne Erfolg für politische Ämter in Detroit. Er lebt ein ruhiges, unauffälliges Leben mit seiner Familie in seinem bescheidenen Haus.

Unerwartetes

Mitte der 70er wird Rodriguez in Südafrika, dem damaligen Rhodesien und Botswanna zum Star. Bis heute ist unklar, wie in einer Zeit ohne Internet und iTunes seine Platten nach Südafrika gelangten. Seine Songs, insbesondere I wonder werden zum Sound der liberal-weissen anti-Apartheid-Bewe-gung, sehr zum Missfallen des Regimes. I wonder mit der Passage

I wonder how many times you had sex
I wonder do you know who’ll be next

muss von den Radiostationen auf den Vinylscheiben zerkratzt werden....Rodriguez verkauft in Südafrika mehr als eine halbe Million Alben, mehr als Elvis Presley (!) – und weiss nichts davon. Clarence Avant, ein Farbiger, behält die Tantiemen für sich zurück und findet dies auch richtig...
Selbst in Südafrika gibt es über Rodriguez wenig Fakten. Ein Gerücht wird aufgebaut, er hätte sich nach einem misslungenen Comback-Konzert auf einer Bühne erschossen. Stephen Segermann, ein Plattenladenbesitzer in Kapstadt, glaubt dem Gerücht nicht. Als er das Booklet für die Neuauflage von Coming from Realitiy texten darf, ruft er darin zur Suche nach ihm auf und richtet eine Website ein. Zwei Jahre später wird Rodriguez inmitten seines bescheidenen Lebens gefunden, wohlauf und schuftend. Es folgt ein Auftritt in Kapstadt, er darf seine Familie inkl. seiner erwachsenen Töchter mitnehmen, am Flughafen erwarten sie nicht rote, sondern weisse Teppiche, das Konzert ist restlos ausverkauft, minutenlang ist zu Beginn nur den Bass des Intros von I wonder zu hören, die Menge tobt.

Oscar-Gewinner

Der schwedische Dokumentarfilmer Malik Bendjelloul, der Rodriguez 2006 zum ersten Mal trifft, zeichnet das Leben von Rodriguez und die Suche nach ihm in seinem Dokumentarfilm Searching for Sugarman (nach dessen mittlerweile berühmt gewordenen Song) auf. Der Film gewinnt bei der Oscar-Verleihung 2013 den Oscar als bester Dokumentarfilm. Der gleichnamige Soundtrack erreicht Platz 76 der US-Charts, die Wiederveröffentlichung „Cold Fact“ Platz 86 der US-Billboard-200.

Rodriguez lebt weiter sein bescheidenes Leben, gibt aber wieder vermehrt Konzerte. Am 9. Mai 2013 verleiht ihm die Wayne State University in Detroit den Ehrendoktortitel Doctor of Human Letters.

Seiner Zeit voraus

Rodriguez war seiner Zeit wahrscheinlich voraus. Seine Songs, vorge-tragen von einer Stimme, die einem Gänsehaut macht, die Schuhe auszieht, die Tränen in die Augen treibt und dort hemmungslos fliessen lässt, sie gehen mehr als unter die Haut, sie schütteln einem, ob über Dealer in der kaputten Stadt Detroit, die etwas Trost zu verkaufen versuchen

Sugar man, won’t you hurry
‚Cos I’m tired of these scenes
for a blue coin won’t you bring back
all those colours to my dreams
Silver magic ships you carry
Jumpers, coke, sweet Mary Jane

über die Einsamkeit

I wonder about the love you can’t find
And I wonder about the loneliness that’s mine
I wonder how much going you got
I wonder about your friends that are not
über nicht gelebte Liebessehnsüchte

The sweetest kiss is the one
I have never tasted

über das Verlassenwordensein

Cause the smell of her perfume echoes in my head still

über Verlassensängste

Cause your queen of hearts who is half a stone
and likes to laugh alone
is always threatening you with leaving

oder Erinnerungen an einen geliebten Menschen

Just a song we shared all here
brings memories back
when you were here
I think of you.

Wenn man(n) im preisgekrönten Film erfährt, dass ihm zwei Wochen vor Weihnachten wegen des Flopps der Plattenvertrag gekündet wird und dann der Song „Cause“ folgt:

Cause I lost my job two weeks before Christmas
And I talked to Jesus at the sewer
And the Pope said it was none of his God-damned Business

dann brechen alle Dämme. Ein Journalist formulierte es so: „Seine tiefgründigen Songs sind wahre Kleinode in einer Zeitkapsel“. Rodriguez brauchte die Worte und Töne nicht für Lieder, sondern um unsere ureigenen Spiegel, Gefühle, Ängste, Sehnsüchte, Wut und auch Freude zu beschreiben, Liebeserklärungen pur an unsere Seele. Am 26.3.2014 schreibt die NZZ: „Seine Platten klingen umso magischer, als Rodriguez’ Stimme einen sofort anspringt durch ihre elektrisierende Strahlkraft.“

Rodriguez wirkt trotz vieler Jahre verpassten Ruhms glücklich, auch wenn in seinen Songs manchmal Wut zu spüren ist:

Cause they told me everbody’s got to pay their dues
And I explained that I have overpaid them

Oder:

Garbage ain’t collected, women ain’t protected
Politicians using people they are abusing
The mafia is getting bigger, like pollution in the river
And you tell me that this is where it is.

Woke up this morning with an ache in my head
I splashed on my clothes as i spilled ou of bed
I opened the window to listen the news
But all I heard was the Establishement’s Blues

Working class hero

Am 13. Mai 2015 spielte Rodriguez im ausverkauften Kongresshaus in Zürich. Die Bauarbeit hat seine Spuren hinterlassen, er muss auf die Bühne geführt werden. Sein muskulöser Oberkörper ein stummer Zeit-zeuge eines harten, arbeitsamen und  bescheidenen Lebens, seine Stimme eine akustische Droge mit Suchtpotential. Wenn je der Begriff working class hero zutraf, dann auf ihn. Wie viele Konzerte wird er noch spielen können? I wonder.

Als ob er meine unausgesprochene Frage aus Reihe 21 gehört hätte:

Cause I see my people trying to drown the sun
in weekends of Whiskey sours
Cause how many times
you wake up in this comic book of life
and plant flowers?

Mit einem „ It was an honour to be here with you“ verabschiedet er sich.

No, the honour was our’s. Thank you for a incredible and tremendous evening!

Definitiv und entgegen allen Unkenrufem: Männer können Männer zum weinen bringen. Wenige Augen bleiben trocken.

©marco.caimi@aequilibris.ch

PS: Rodriguez spielt heute 15. Mai in Milano und am 23.5. in Firenze.