Donnerstag, 8. Februar 2018

MENTALE SUBTRAKTION

Kennen Sie den Film „It’s a wonderful Life?“ Er stammt aus dem Jahre 1946, mit James Stewart. Die USA sind noch vom zweiten Weltkrieg geschüttelt, es ist kurz vor dem Weihnachtsabend in der amerikanischen Kleinstadt Bedford Falls. George Bailey, Leiter einer kleinen Hypothekarsparkasse, versucht sich das Leben zu nehmen. Ein unbescholtener, tadelloser Mann, verheiratet, Vater von vier Kindern,  der viel für die Entwicklung von Bedford Falls getan hat, steht vor dem Bankrott, weil sein Onkel sein ganzes ihm anvertrautes Geld verspielt hat. Bailey steht auf einer Brücke und will runterspringen, genau in dem Moment, als ein älterer Mann in den Fluss fällt und um Hilfe ruft. Bailey verschiebt den eigenen Suizid und rettet ihn. Der Gerettete behauptet von sich, ein Engel zu sein. Bailey glaubt ihm nicht, als Prüfung wünscht er sich von dem Mann, nie geboren zu sein. Der Engel verwandelt Bedford Falls in den traurigen Zustand, in dem das Städtchen wäre, wenn es George Bailey nie gegeben hätte. Am Weihnachtsabend erwacht Bailey aus diesem Zustand, kehrt in die Realität zurück und ist von seiner depressiven Stimmung befreit. Überglücklich, dass er noch am Leben ist, rennt er durch die Hauptstrasse des eingeschneiten Städtchens, jubiliert, lacht, jaucht und wünscht allen „Merry Christmas, Merry Christmas!“

Der Film ist längst zu einem Weihnachtsklassiker gereift, die Filme, die über die Festtage eben so ausgestrahlt werden. Noch nicht zu wirklicher Berühmtheit, geschweige denn zu einem Klassiker hat es die mentale Strategie, die der gerettete Engel in diesem Film anwendet, geschafft. In der Psychologie spricht man von mentaler Subtraktion, ein gutes Stück für in die Werkzeugkiste für ein gutes Leben.

Lust auf eine Übung? Ja? Okay, dann los!

Warm-up: Drucken Sie zuerst diesen Blog aus.
Beantworten dann Sie folgende Frage: Wie glücklich sind Sie gerade in Ihrem Leben? Wählen Sie eine Zahl zwischen 0 (zu Tode betrübt, die Welt ist ein Elendsviertel) und 10 ( Gleich fliege ich...). Schreiben Sie den Wert an den Rand dieses Blogs (wenn Sie keinen Drucker haben, auf einen Zettel, wenn Sie keinen Zettel haben auf Ihre Handinnenfläche: Wenn Sie nichts zu schreiben haben und auch nichts holen wollen, empfehle ich die Brücke und die Hoffnung auf einen Engel....)

Lehnen Sie zurück. Schliessen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, Sie hätten den rechten Arm verloren. Nur noch ein kleiner Stumpf. Wie fühlt sich das denn an? Wie viel schwieriger ist das Leben geworden? Wie jemanden umarmen? Wie schwimmen? Wie Fahrrad fahren? Essen?
Es geht weiter. Nun stellen Sie sich auch noch vor, Sie hätten zusätzlich den linken Arm verloren.  Keine Hände mehr. Nichts mehr berühren, halten, streicheln. Nun verlieren Sie auch noch das Augenlicht. Sie hören und riechen alles, aber...
Öffnen Sie nun die Augen wieder. Nehmen Sie sich die Zeit (3 min), um diese Situationen durchzuspielen, sich in sie hinein zu fühlen, bevor weiterlesen.

Wie fühlt sich nun Ihr Lebensglück an? Bewerten Sie es mit einer Zahl neu! Wenn Sie die Übung wirklich gemacht und in sie hinein gefühlt haben, hat sich Ihr Glücksgefühl soeben erheblich erhöht. Als ich sie das erste Mal gemacht habe, fühlte ich mich wie ein Stein oder Geschoss, das von einem Katapult losgelassen wird. Oder wie ein Ball, den
man unter Wasser hält und dann loslässt: Er schiesst wie eine Fontäne hoch! Das ist der eindrückliche Effekt der mentalen Subtraktion!

Silbermedaillen-Gewinner sind unglücklicher als Bronzemedaillen-Gewinner (Studie anlässlich der Olympischen Spiele in Barcelona). Logisch: Silber misst sich an Gold, Bronze an gar keiner Medaille. Mentale Subtraktion vergleicht mit „keiner Medaille“. Anstelle von Medaille können Sie irgendetwas einsetzen.
Deshalb müssen Sie sich natürlich nicht alles amputieren lassen in einer solchen Übung. Fragen Sie sich, wie es wäre, wenn Sie in einem Slum leben müssten anstelle Ihres bestimmt gemütlichen Heimes. Oder für Lebensmittel stundenlang anstehen wie ich es 1983 in der Sowjetunion (Moskau und Leningrad, so hiess St. Petersburg damals noch) erlebt habe und nicht wissen, ob es dann überhaupt noch was gibt. Oder Sie wären in einem Schützengraben stationiert, in Nordsyrien zum Beispiel. Spüren Sie, wie Dankbarkeit aufkommt? Dankbarkeit, eine der wertvollsten Emotionen und so vernachlässigt. Versuchen Sie mal gleichzeitig dankbar und sauer oder gar aggressiv zu sein. Ein Ding der Unmöglichkeit!

Es gibt allerdings zwei Probleme mit dieser Dankbarkeit:

1. Wem danke ich überhaupt? Wer nicht gläubig ist, dessen Dankbarkeit kann ins Leere gehen.
2. Die Gewöhnung. Das Gehirn des Menschen reagiert zwar oft heftig auf jegliche Veränderungen, aber gewöhnt sich schnell an neue Zustände. Das ist von Vorteil, wenn uns Unheil zustösst: Wir den Lebenspartner verlieren, die Stelle, eine Prüfung nicht bestehen. Der Psychologe Dan Gilbert spricht vom psychologischen Immunsystem mit entsprechenden „Antikörpern“. Und auch das hat eine Kehrseite:
Wir gewöhnen uns auch rasch an schöne Dinge: Die Lohnerhöhung, das neue Auto, eine bestandene Prüfung, selbst die heisseste Flamme der Liebe soll eine Halbwertszeit von lediglich 3 Monaten haben, bevor sie den ersten Kühleffekt erlebt.

Dankbarkeit ist der Versuch, gegen die Gewöhnung anzukämpfen. Leider gewöhnen wir uns auch an diese mentale Herangehensweise. Immer nur positiv zu denken, macht nicht glücklicher.

Zum Glück haben Dan Gilbert und Timothy Wilson noch eine gute Nachricht für uns bereit: Die mentale Subtraktion kennt keinen dieser Nachteile.  Die beiden Forscher konnten zeigen, dass mentale Subtraktion das Glück signifikant stärker erhöht als das dauernde Denken an schöne Dinge des Lebens. Bereits die Stoiker* kannten diesen Trick schon vor 2000 Jahren: Statt daran zu denken, was man alles nicht besitzt, ist es besser, sich Gedanken darüber zu machen, wie stark man die Dinge, die man schon besitzt, vermissen würde, wären sie noch nicht in unserem Besitz.

Der Wissenschaftler Paul Dolan schreibt: „Unser Glück ist uns oft nicht bewusst. Stellen Sie sich vor, Sie spielen Klavier, hören aber nicht, wie es klingt. Vieles in unserem Leben ist wie Klavierspielen, ohne dass man es hört.“

Es ginge darum, anfangen bewusst zu spielen (leben), Klavier oder irgendetwas. Aber eben: Anfang, Neustart – was für schwere Worte – wenn es da nicht ein Seminar dazu gäbe....

© Marco Caimi

* Die Stoiker (Beginn der stoischen Ethik ca. 300 v.Chr.) besassen Eudamonia, die vollkommene Glückseligkeit, herbeigeführt aus den Kardinaltugenden Weisheit, Mässigung, Gerechtigkeit und Tapferkeit.