Ein Plädoyer für eine hoffnungsvollere Definition von
Liebe
Schon in den Schulen werden Kinder über
Ersatzreligionen aufgeklärt. Das soll ihre Widerstandskraft gegen teilweise
lebensgefährliche Heilslehren wie die der Zeugen Jehowas oder den Wahabismus
stärken. Schade nur, dass sie nichts über die stärkste Ersatzreligion von ihren
Lehrern erfahren: Die verklärte Liebe, wie sie in jedem Hit oder fast jedem
Spielfilm vorkommt. Diese eine und alleinige, wahnsinnige, romantische Liebe,
bei der sich zwei Menschen unsterblich in einander verlieben, wie im Rausch
über einander herfallen, fast den Verstand verlieren und nichts mehr ausser
sich sehen, denn die frische Liebe macht blind, erst die Zeit bringt die
Sehkraft zurück.
Von der Liebe als Ersatzreligion zu sprechen,
mag als Blasphemie erscheinen, ist es aber keineswegs, erfüllt die romantische
Liebe in unserem Verständnis oder vielmehr deren Mythos alle Kriterien einer
Pseudoreligion: Sie verlangt Verschmelzung und Unterwerfung mit und unter das
Liebesobjekt, verspricht aber im Gegenzug Heil und Erlösung (vom Singledasein
in der Hölle der Gesellschaft, die diesen Status immer noch nicht wirklich
akzeptieren kann, obschon die Zahl der Single-Haushalte am Steigen ist). Sie
ist monotheistisch, denn andere
Götter (Freundschaften) werden normalerweise nicht geduldet, ihre Feiertage heissen Valentins- oder
Hochzeitstag. Wehe, jemand würdigt sie nicht angemessen: Es droht postwendend
der Liebesentzug! Das Grundgebet: Gib
uns unsere tägliche Liebe. Die
Nahrungsgrundlage: Ich könnte dich fressen. Die Sakramente : Die drei K’s - Küssen, Kuscheln, Knuddeln, bei
guter Liebesführung auch mal Sex. Das
sakrale Logo: Das Herz, vorzugsweise rot. Die Ikonen: Selfies und Hochzeitsfotos. Die heilige Schrift: What’s up-Liebeserklärungen, geschmückt mit
tausend Emoticon-Herzen...Der Schrein:
Die Komode mit den Hochzeitsfotos. Der
Altar: Das gemeinsame Bett (bis zu den ersten Schnarchmessen). Die Psychopathologie: Ich bin verrückt
nach dir.
Transzendenz erleben viele heute nur im Gefühl
des frisch Verliebtseins mit Beschreibungen „wie auf Wolken schweben“, ein
Leben „wie im Traum“ oder die Variante der Reinkarnation: „Ich fühle mich wie
neu geboren.“ Das Album der deutschen Band Frida Gold fasst treffend zusammen,
was unausgesprochen ohnehin längst alle denken: „Love is my religion“ – Mrs.
Right sucht den Messias Mr. Right oder umgekehrt, auch wenn er in gewissen
Sendungen Mr. Big heisst...
Heftige Spuren
Jeder erfahrene Therapeut weiss zu berichten,
welche Politik der verbrannten Erde ein falsch gehuldigter Götze Liebe hinterlassen kann. Die
Heilserwartung, dass ein anderer Mensch einen per se unglücklichen Menschen
glücklich machen kann, kann sich nicht erfüllen. Erlösung, die Befreiung des
Menschen aus den Fesseln der conditio humana, kann es nicht durch einen anderen
Menschen geben. Wer sich von der Liebe eines anderen für sich den Himmel auf
Erden verspricht, wird sich (und vor allem dem anderen) das Leben zur Hölle
machen. Es kann nur Liebe geben, wer sich selbst liebt. Davon spricht seit
vielen Jahren auch ein dickes Buch... Diese Weisheit haben wir zu Narzissmus
und Egoismus umfunktioniert, leider.
Eine grosse Lüge
Noch immer erzählt man in trotz unserer
überpornographierten Gesellschaft, dass Liebe = Sex ist und umgekehrt. Ich
weigere mich jetzt mal, dieses Glatteis zu betreten und überlasse dem für mich
grössten Paartherapeuten der Gegenwart, Professor David Schnarch, der das
„Marriage und Family Health Center“ in Evergreen (nomen est omen!!) in
Colorado, USA, leitet, das Wort:
„Eine der
grossen Lügen, die wir Kindern und zum Teil uns erzählen ist, dass Sex für
Liebe steht. Menschen nutzen Sex, um alle möglichen Motive und Gefühle
auszudrücken, Abenteuerlust oder Fürsorge, aber auch Wut und Verachtung. Eine
andere grosse Lüge ist, dass die Jugend die beste sexuelle Zeit ist. Die Jugend
ist die Zeit, in der Jungs die härtesten Erektionen haben und Frauen frei von
Zellulitis sind. Aber die beste sexuelle Zeit des Lebens ist die Lebensmitte
oder später. Denn sexuelle Qualität hängt nicht vom Körper, sondern von Geist
und Herz ab. Wenn zwei Menschen intim werden, gibt es keinen 18 jährigen, der
es mit gesunden 50-oder 60 jährigen aufnehmen könnte.“
Hey, Babyboomers und –boomerinnen, das ist doch
mal ein Wort, oder? Lasst die Korken knallen, zieht euch aus und legt euch hin.
Es geht doch erst los, ein bisschen weiser, etwas weniger von der EINEN Liebe
geblendet, dafür erwartungsloser, entspannter und selbst mehr gebend!
Eine schlimme Lüge
„Der Mythos der romantischen Liebe ist eine
schlimme Lüge“, schreibt der amerikanische Psychiater M. Scott Peck, „als
Psychiater tut es mir im Herzen weh, fast täglich sehen zu müssen, welche
Verwirrung und welches Leid dieser Mythos anrichtet.“ Ich kann Ihnen nur
beipflichten, Herr Kollege. Viele Patienten, so Peck, werden mit der
Enttäuschung, dass es die grosse Liebe aus den Hollywoodfilmen in ihrem Leben
nicht gibt, einfach nicht fertig: “Millionen von Menschen verschwenden
ungeheure Mengen an Energien mit dem verzweifelten Versuch, die Realität ihres
Lebens mit dem unrealistischen Mythos Liebe in Einklang zu bringen.“
Im Westen nicht Neues
Schon 1956 warnte Erich Fromm vor der
Pseudoliebe und ihren Konsequenzen: „Da in der Regel niemand auf Dauer die
Erwartungen eines so abgöttisch Liebenden erfüllen kann, muss es zu
Enttäuschungen kommen. Man sucht sich mit einem neuen Idol zu entschädigen,
manchmal in einem nicht endenden Kreislauf.“ 1956! Der Mann war ein Visionär
der seriellen Monogamie oder des LAP-Konzeptes (Lebensabschnitt-Partners).
Glorifizierung der Liebe in der Unterhaltung
Mit dem Alltag des Lebens hat dies nur wenig zu
tun. In Filmen, Songs und vielen Büchern kommt der Teil der Wirklichkeit, der
nicht in den rosaroten Bilderrahmen passt, schlicht nicht vor:
Es wird ab- und ausgeblendet, bevor die
Geschichte sich entliebt, die Problemkinder ins Bild kämen, die Falten, die
Arbeitslosigkeit, die sterbenden Eltern und der eigene, teils selbst
beschleunigte Verfall mit dem Bierbauch und der Zellulitis. Oder der des
Partners.
Ersatzreligion mit Kollateralschäden
Zu den unerwünschten Nebenwirkungen der
Ersatzreligion Liebe gehören auch die vielen Menschen, die nicht in
Partnerschaft leben (dürfen, wollen oder können?). Ihr Leben wird von Paaren
oft als defizitär wahrgenommen, auch wenn die Musikerin und Schriftstellerin
Christiane Rösinger meint: „Ihr denkt, es wär ein Märchen, dabei seit ihr nur
dumme Pärchen.“ In geschützter Paargemeinschaft (auf)gefangen, vermuten viele,
dass bei Singles etwas nicht stimmt. Dass jemand freiwillig einen anderen als
den Weg in die Partnerschaft geht, ist ganz einfach unverständlich. Dass jemand
keinen geeigneten Partner gefunden hat (oder nicht mehr findet), wird als sein
ganz persönliches Versagen interpretiert. Bestenfalls hat er von seinem Umfeld
Mitleid zu erwarten, eingeladen wird er kaum, vor allem sie nicht, weil sie ja in einer Paargemeinschaft zur Rivalin werden
könnte. Das nennt man dann eine gefestigte, auf Vertrauen beruhende wahre Liebe
und Beziehung – viele Wittfrauen können ein Lied davon singen.
Ein schwerer Stand
Religionskritik hat es schon immer schwer
gehabt. Wer sich kritische Gedanken über die Liebe unserer Pop- und vor allem
Unterhaltungskultur macht, noch schwerer. Man unterstellt ihm Neid, mutmassend,
dass er noch nicht die Richtige gefunden hat oder diese nicht „halten“ konnte.
Wer zudem darauf hinweist, dass Liebe noch andere Aspekte haben könnte als denjenigen
von anfänglich wilden chemischen Reaktionen in Herz und vor allem
Zentralnervensystem, wer gar von caritas et amor spricht oder von
Nächstenliebe, gilt als Moralapostel oder Aufschneider. Sofort wird er mit der
Mutter aller Liebesfragen konfrontiert: „Glauben Sie etwa nicht an die grosse
Liebe?“
Es ist also doch eine Glaubensfrage. Was zu
beweisen war.
©marco.caimi@aequilibris.ch
Dienstag, 14. Juli 2015, 22.25, SRF 1 „DER CLUB:
Secondhand-Liebe“. Mit Marco Caimi als Talk-Gast.