Sonntag, 12. Juli 2015

DIE LIEBE ALS ERSATZRELOGION?



Ein Plädoyer für eine hoffnungsvollere Definition von Liebe

Schon in den Schulen werden Kinder über Ersatzreligionen aufgeklärt. Das soll ihre Widerstandskraft gegen teilweise lebensgefährliche Heilslehren wie die der Zeugen Jehowas oder den Wahabismus stärken. Schade nur, dass sie nichts über die stärkste Ersatzreligion von ihren Lehrern erfahren: Die verklärte Liebe, wie sie in jedem Hit oder fast jedem Spielfilm vorkommt. Diese eine und alleinige, wahnsinnige, romantische Liebe, bei der sich zwei Menschen unsterblich in einander verlieben, wie im Rausch über einander herfallen, fast den Verstand verlieren und nichts mehr ausser sich sehen, denn die frische Liebe macht blind, erst die Zeit bringt die Sehkraft zurück.

Von der Liebe als Ersatzreligion zu sprechen, mag als Blasphemie erscheinen, ist es aber keineswegs, erfüllt die romantische Liebe in unserem Verständnis oder vielmehr deren Mythos alle Kriterien einer Pseudoreligion: Sie verlangt Verschmelzung und Unterwerfung mit und unter das Liebesobjekt, verspricht aber im Gegenzug Heil und Erlösung (vom Singledasein in der Hölle der Gesellschaft, die diesen Status immer noch nicht wirklich akzeptieren kann, obschon die Zahl der Single-Haushalte am Steigen ist). Sie ist monotheistisch, denn andere Götter (Freundschaften) werden normalerweise nicht geduldet, ihre Feiertage heissen Valentins- oder Hochzeitstag. Wehe, jemand würdigt sie nicht angemessen: Es droht postwendend der Liebesentzug! Das Grundgebet: Gib uns unsere tägliche Liebe. Die Nahrungsgrundlage: Ich könnte dich fressen. Die Sakramente : Die drei K’s - Küssen, Kuscheln, Knuddeln, bei guter Liebesführung auch mal Sex. Das sakrale Logo: Das Herz, vorzugsweise rot. Die Ikonen: Selfies und Hochzeitsfotos. Die heilige Schrift: What’s up-Liebeserklärungen, geschmückt mit tausend Emoticon-Herzen...Der Schrein: Die Komode mit den Hochzeitsfotos. Der Altar: Das gemeinsame Bett (bis zu den ersten Schnarchmessen). Die Psychopathologie: Ich bin verrückt nach dir.

Transzendenz erleben viele heute nur im Gefühl des frisch Verliebtseins mit Beschreibungen „wie auf Wolken schweben“, ein Leben „wie im Traum“ oder die Variante der Reinkarnation: „Ich fühle mich wie neu geboren.“ Das Album der deutschen Band Frida Gold fasst treffend zusammen, was unausgesprochen ohnehin längst alle denken: „Love is my religion“ – Mrs. Right sucht den Messias Mr. Right oder umgekehrt, auch wenn er in gewissen Sendungen Mr. Big heisst...

Heftige Spuren

Jeder erfahrene Therapeut weiss zu berichten, welche Politik der verbrannten Erde ein falsch gehuldigter Götze Liebe hinterlassen kann. Die Heilserwartung, dass ein anderer Mensch einen per se unglücklichen Menschen glücklich machen kann, kann sich nicht erfüllen. Erlösung, die Befreiung des Menschen aus den Fesseln der conditio humana, kann es nicht durch einen anderen Menschen geben. Wer sich von der Liebe eines anderen für sich den Himmel auf Erden verspricht, wird sich (und vor allem dem anderen) das Leben zur Hölle machen. Es kann nur Liebe geben, wer sich selbst liebt. Davon spricht seit vielen Jahren auch ein dickes Buch... Diese Weisheit haben wir zu Narzissmus und Egoismus umfunktioniert, leider.


Eine grosse Lüge

Noch immer erzählt man in trotz unserer überpornographierten Gesellschaft, dass Liebe = Sex ist und umgekehrt. Ich weigere mich jetzt mal, dieses Glatteis zu betreten und überlasse dem für mich grössten Paartherapeuten der Gegenwart, Professor David Schnarch, der das „Marriage und Family Health Center“ in Evergreen (nomen est omen!!) in Colorado, USA, leitet, das Wort:
Eine der grossen Lügen, die wir Kindern und zum Teil uns erzählen ist, dass Sex für Liebe steht. Menschen nutzen Sex, um alle möglichen Motive und Gefühle auszudrücken, Abenteuerlust oder Fürsorge, aber auch Wut und Verachtung. Eine andere grosse Lüge ist, dass die Jugend die beste sexuelle Zeit ist. Die Jugend ist die Zeit, in der Jungs die härtesten Erektionen haben und Frauen frei von Zellulitis sind. Aber die beste sexuelle Zeit des Lebens ist die Lebensmitte oder später. Denn sexuelle Qualität hängt nicht vom Körper, sondern von Geist und Herz ab. Wenn zwei Menschen intim werden, gibt es keinen 18 jährigen, der es mit gesunden 50-oder 60 jährigen aufnehmen könnte.“
Hey, Babyboomers und –boomerinnen, das ist doch mal ein Wort, oder? Lasst die Korken knallen, zieht euch aus und legt euch hin. Es geht doch erst los, ein bisschen weiser, etwas weniger von der EINEN Liebe geblendet, dafür erwartungsloser, entspannter und selbst mehr gebend!

Eine schlimme Lüge

„Der Mythos der romantischen Liebe ist eine schlimme Lüge“, schreibt der amerikanische Psychiater M. Scott Peck, „als Psychiater tut es mir im Herzen weh, fast täglich sehen zu müssen, welche Verwirrung und welches Leid dieser Mythos anrichtet.“ Ich kann Ihnen nur beipflichten, Herr Kollege. Viele Patienten, so Peck, werden mit der Enttäuschung, dass es die grosse Liebe aus den Hollywoodfilmen in ihrem Leben nicht gibt, einfach nicht fertig: “Millionen von Menschen verschwenden ungeheure Mengen an Energien mit dem verzweifelten Versuch, die Realität ihres Lebens mit dem unrealistischen Mythos Liebe in Einklang zu bringen.“

Im Westen nicht Neues

Schon 1956 warnte Erich Fromm vor der Pseudoliebe und ihren Konsequenzen: „Da in der Regel niemand auf Dauer die Erwartungen eines so abgöttisch Liebenden erfüllen kann, muss es zu Enttäuschungen kommen. Man sucht sich mit einem neuen Idol zu entschädigen, manchmal in einem nicht endenden Kreislauf.“ 1956! Der Mann war ein Visionär der seriellen Monogamie oder des LAP-Konzeptes (Lebensabschnitt-Partners).

Glorifizierung der Liebe in der Unterhaltung

Mit dem Alltag des Lebens hat dies nur wenig zu tun. In Filmen, Songs und vielen Büchern kommt der Teil der Wirklichkeit, der nicht in den rosaroten Bilderrahmen passt, schlicht nicht vor:
Es wird ab- und ausgeblendet, bevor die Geschichte sich entliebt, die Problemkinder ins Bild kämen, die Falten, die Arbeitslosigkeit, die sterbenden Eltern und der eigene, teils selbst beschleunigte Verfall mit dem Bierbauch und der Zellulitis. Oder der des Partners.


Ersatzreligion mit Kollateralschäden

Zu den unerwünschten Nebenwirkungen der Ersatzreligion Liebe gehören auch die vielen Menschen, die nicht in Partnerschaft leben (dürfen, wollen oder können?). Ihr Leben wird von Paaren oft als defizitär wahrgenommen, auch wenn die Musikerin und Schriftstellerin Christiane Rösinger meint: „Ihr denkt, es wär ein Märchen, dabei seit ihr nur dumme Pärchen.“ In geschützter Paargemeinschaft (auf)gefangen, vermuten viele, dass bei Singles etwas nicht stimmt. Dass jemand freiwillig einen anderen als den Weg in die Partnerschaft geht, ist ganz einfach unverständlich. Dass jemand keinen geeigneten Partner gefunden hat (oder nicht mehr findet), wird als sein ganz persönliches Versagen interpretiert. Bestenfalls hat er von seinem Umfeld Mitleid zu erwarten, eingeladen wird er kaum, vor allem sie nicht, weil sie ja in einer Paargemeinschaft zur Rivalin werden könnte. Das nennt man dann eine gefestigte, auf Vertrauen beruhende wahre Liebe und Beziehung – viele Wittfrauen können ein Lied davon singen.

Ein schwerer Stand

Religionskritik hat es schon immer schwer gehabt. Wer sich kritische Gedanken über die Liebe unserer Pop- und vor allem Unterhaltungskultur macht, noch schwerer. Man unterstellt ihm Neid, mutmassend, dass er noch nicht die Richtige gefunden hat oder diese nicht „halten“ konnte. Wer zudem darauf hinweist, dass Liebe noch andere Aspekte haben könnte als denjenigen von anfänglich wilden chemischen Reaktionen in Herz und vor allem Zentralnervensystem, wer gar von caritas et amor spricht oder von Nächstenliebe, gilt als Moralapostel oder Aufschneider. Sofort wird er mit der Mutter aller Liebesfragen konfrontiert: „Glauben Sie etwa nicht an die grosse Liebe?“
Es ist also doch eine Glaubensfrage. Was zu beweisen war.

©marco.caimi@aequilibris.ch

Dienstag, 14. Juli 2015, 22.25, SRF 1 „DER CLUB: Secondhand-Liebe“. Mit Marco Caimi als Talk-Gast.