Wir irrten uns aneinander. Es war eine schöne Zeit.
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
Wiederholt wurde ich angefragt, warum wir nur
Einzeltherapien machen und keine Gruppe führen würden, auch warum ich nie etwas
über Gruppentherapie schreiben würde. Für nicht wenige ist Gruppentherapie
einfach nur ein schrecklicher Stuhlkreis, in welchem man sich womöglich auch
noch nur anschweigt und alle Wollstrümpfe und Birkenstöcke tragen. Dies ist
natürlich ein längst nicht mehr zeitgemässes Bild und so möchte ich dem
mannigfaltig geäusserten Wunsch doppelt entsprechen:
Darüber schreiben und eine Gruppe eröffnen,
aber Schritt für Schritt:
Geschichte
1905 arbeitet Joseh H. Pratt auf einer
Tuberkulose-Station mit Gruppen, in den 20er etabliert sich die Gruppentherapie
dank Paul Schilder, Alfred Adler, August Aichhorn, um nur die wichtigsten zu
nennen. Beschrieben wird der Begriff Gruppenpsychotherapie erstmals in den
früheren 40er Jahren von Jacob Levy Moreno, dem Begründer des Psychodramas.
In den 60er bis 80ern wird die Gruppentherapie
durch Raymond Battegay in Basel, Michael Balint in London, Raoul Schindler in
Wien, Fritz Perls und Carl Rogers in New York und Horst Eberhard Richter in
Giessen weiterentwickelt.
Therapeutische Ansätze
Vieles in der Gruppentherapie basiert
letzendlich auf Harry Stack Sullivan und seiner zwischenmenschlichen
(interpersonalen) Theorie in der Gesprächstherapie. Nach Sullivans Auffassung
entsteht die Persönlichkeit fast ausschliesslich durch die Interaktion des
Menschen mit anderen Menschen, insbesondere seinen „Bezugspersonen“: Der Mensch
entwickelt ein Selbstkonzept, dass auf den wahrgenommenen Urteilen und
Einschätzungen dieser Bezugspersonen basiert. Grunebaum und Solomon haben in
ihren Untersuchungen über junge Menschen darauf hingewiesen, dass befriedigende
Beziehungen und das Selbstwertgefühl untrennbar miteinander verbunden sind.
Gleiches gilt für sowohl für Menschen in der zweiten Lebenshälfte als auch für
alte Menschen.
Die Gruppe als
Mikrokosmos
Wenn du die Einsameit nicht ertragen kannst, langweilst du vielleicht auch andere?
Oscar Wilde (1854-1900)
Eine frei interagierende Gruppe, die nicht
durch rigide, meistens durch die Gruppenleitung implementierte Strukturen
behindert wird, entwickelt sich im Laufe der Zeit zu einem sozialen Mikrokosmos
ihrer Mitglieder. Wenn man ihnen genügend Zeit lässt, fangen sie alle
irgendwann an, sich selbst zu sein und interagieren mit den übrigen Gruppen-mitgliedern
so wie mit Menschen in ihrer gewohnten Umgebung. Sie lassen in eben dieser
Gruppe das interpersonale (zwischen-menschliche) Universum entstehen, in dem
sie ständig leben. Mit einem gewichtigen und oft matchentscheidenden
Unterschied: In der Gruppe erhalten sie ungeschminkten Feedback, was in ihrem
„Alltagsuniversum“ oft nicht der Fall ist oder jeglicher Restobjektivität
entbehrt. Oft ist die Gruppe für Menschen, die keine engeren Beziehungen
(mehr?) haben oder finden, die erste Gelegenheit, intensives und präzises
Feedback über ihre Art des Umgangs mit anderen zu erhalten. Vielen Menschen,
die über ihre Umgebung klagen, über Enttäuschungen, aber auch über Einsamkeit,
ermöglicht die Gruppe herauszufinden, was ihr eigener Beitrag zu Enttäuschung,
immer gleich bleibenden Annäherungsmustern an beispielsweise potentielle PartnerInnen
und eventuell auch Isolation und Einsamkeit ist.
Die Ausbildung von
Fähigkeiten
Welche Fähigkeit
besitzen wir alle gemeinsam? Die Fähigkeit zu verändern!
L. Andrews
Innerhalb der Gruppe entstehen bei den
Teilnehmenden neben oben erwähntem oft zusätzliche Fähigkeiten: Sie lernen, auf
andere so zu reagieren, dass sie ihnen helfen (können). Sie eignen sich
Methoden der Konfliktlösung an. Sie urteilen seltener über andere. Sie sind
besser in der Lage, auf angemessene Weise Empathie zu erleben und selbst zum
Ausdruck zu bringen. Diese Fähigkeiten helfen den Betreffenden später im Umgang
mit anderen Menschen und bilden die Grundlage der emotionalen Intelligenz.
Ein - oder Ausschluss?
Aus Untersuchungen nicht menschlicher Primaten,
primitiver menschlicher Kulturen und der heutigen menschlichen Gesellschaft
geht eindeutig hervor, dass Menschen immer in Gruppen zusammengelebt haben,
innerhalb derer es intensive und dauerhafte Beziehungen zwischen den
Gruppenmitgliedern gab nd dass das Zugehörigkeitsbedürfnis stets eine starke,
grundlegende und omnipräsente Motivation war.
Der grosse amerikanische Psychologe und
Philosoph (!) William James hat vor einem guten Jahrhundert geäussert:
„Wir sind nicht nur Herdentiere, die gerne in
Sichtweite ihrer Artgenossen bleiben, sondern wir haben auch eine angeborene
Neigung, uns die Beachtung, und zwar die positive Beachtung, unseresgleichen zu
sichern. Man könnte sich keine höllischere Strafe ausdenken, wäre so etwas
physikalisch-theoretisch möglich, als jemanden in einer Gesellschaft leben zu
lassen, deren Mitglieder den Betreffenden nicht im Geringsten bemerken.“
Dazu gehört auch durch andere Menschen
herauszufinden, was nicht zu uns gehört. Herauszufinden, was wir nicht sind,
ist ein Schritt auf dem weg zur Erkenntnis dessen, was wir sind.
Risikofaktor
Beziehungsmangel
Die Überlegungen von William James wurden durch
zeitgenössische Untersuchungen, in denen der Schmerz der Einsamkeit oder
abgewiesener Beziehungen und deren negative Folgen nachgewiesen wurden, immer
wieder als zutreffend bestätigt. Beispielsweise liegen uns stichhaltige Beweise
dafür vor, dass alle verbreiteten Todesursachen signifikant häufiger bei
Alleinstehenden vorkommen: bei ledigen, geschiedenen und verwitweten Menschen.
Soziale Isolation ist ein ebenso gravierender Risikofaktor für frühe(re)
Sterblichkeit wie altbekannte körperliche Risiken, beispielsweise Rauchen,
Bluthochdruck, Übergewicht.
Methodik und Wirkung
Die Gruppe soll als Pendant (Abbild) der
Gesellschaft, der Umgebung und der Herkunfts-familie des Teilnehmers dienen.
Der Gruppe wird kein Thema vorgegeben, die Teilnehmenden sprechen über das, was
sie gerade beschäftigt, teilen Einfälle, Erlebnisse, Assoziationen aber auch
Phantasien frei mit. Therapeut (und evtl.) Co-Therapeut verhält (verhalten)
sich wohlwollend, neutral und mit Gruppendauer zunehmend abstinent. Dadurch
entsteht die erwähnte freie Gruppe, befreit von hierarchischen Strukturzwängen,
in denen Teilnehmende Erfahrungen, Erlebnisse und damit verbundene Gefühle
wieder erleben können, diesmal aber mit Feedback. Im Konflikt sollen verbotene
Wünsche und verinnerlichte kulturelle, gesellschaftliche,
zwischenmenschlich-partnerschaftliche, eventuell aber auch elterliche Tabus
deutlich gemacht und dadurch das aktuelle Leben hemmender Widerstand abgebaut
werden. Dadurch werden neue Stimmungen und Energie freigesetzt.
Die wichtigsten Wirkfaktoren der Gruppe sind:
· Katharsis (Ausdrücken von Gefühlen,
Emotionen, Aggressionen)
· Zwischenmenschliches Lernen
· Die Gruppe als Mikrokosmos
· Feedback
Gruppengrösse
Als ideal wird eine Gruppe von sieben bis acht
Teilnehmenden (exkl. Leitung) angesehen. Das Minimum beträgt drei bis vier.
Setting
Jedes Treffen (wöchentlich) dauert 90 Minuten.
Es gibt kein vorgefasstes Programm, der Verlauf der Gespräche wird durch die
Gruppenmitglieder initiiert. Die freie Assoziation ist ein ebenso wesentliches
Element wie das Feedback der Teilnehmer an die Teilnehmer. Die Leitung kann
eine weitgehend passiv-abstinente Haltung einnehmen, aber auch aktiv in das
Geschehen eingreifen. Ihre wichtigste Aufgabe ist die Moderation der (teilweise
unbewussten) Kommunikation der Gruppenmitglieder untereinander sowie einzelne
Widerstände aufzulösen und Veränderungen zu beobachten, diese anzusprechen und
zu deuten.
Erscheinen, Dauer,
Geschlecht
Es besteht Erscheinungspflicht. Unregelmässige
Partizipation stört nicht nur den eigenen, sondern den Prozess der ganzen
Gruppe, insbesondere kurzfristige Abwesenheitsankündigungen oder
unentschuldigtes Nicht-erscheinen. Die Dauer der Gruppe wird i.d.R. als ersten
Schritt auf ein halbes Jahr angelegt, kann sich und tut sich oft aber auch in
gegenseitiger Absprache verlängern.
© Dr. med. Marco Caimi
Beginn
offene Gesprächsgruppe (Frauen herzlich willkommen!) „ReInvention“:
Dienstag, 13. Oktober 2015 ; 18.30-20.00
Ort: Männerpraxis, Steinenvorstadt 11, 4051 Basel
Leitung: Dr. med. Marco Caimi, Männerarzt und
Paartherapeut
Co-Leitung: Lisa Gerspacher, Studentin der Psychologie
Anmeldung und/oder Fragen: 061 225 92 55
oder: edoc@maennerpraxis.ch
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